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Charles Lewinsky: Gerron. dtv 2013. 540 Seiten. ISBN 978-3-423-14250-2

Veröffentlicht am 08.03.2015

„Opfer ist kein Charaktermerkmal. Opfer ist ein Schicksal“: Charles Lewinsky im Interview zu „Gerron“ (zu sehen auf YouTube).

Lewinsky zeigt Kurt Gerron, wie er gewesen ist: ein Entertainer, der auf der Bühne lebt und von dort das Leben gestaltet. Der lacht, der ironisch und melancholisch, der lebensfroh und am Ende verzweifelt ist. Der liebt und unbedingt geliebt werden will, als Schauspieler, als Sänger, als Regisseur. Der sich über das, was er tut, definiert.

Selbst wem heute der Name Kurt Gerron nicht geläufig ist, der kennt die Stimme. Wie oft wurde und wird der Macky-Messer-Song aus Brechts Dreigroschenoper noch im Originalton gespielt. Fast jeder von uns hat die Stimme Gerrons schon mit dem knisternden Hintergrund alter Schellackplatten gehört. Und wer nicht, kann sie sich auf YouTube anhören.

Der Roman Lewinskys über Kurt Gerron, eigentlich Gerson, ist in vielerlei Hinsicht herausragend. Zum einen zeigt der Autor hier noch mehr als in den Vorgängerromanen wie „Kastelau“ sein profundes Wissen über die Filmproduktionen vor und während des NS-Regimes. Genaue Kenntnis von den Gegebenheiten deutscher und niederländischer Konzentrationslager, im besonderen von Theresienstadt, fließt wie selbstverständlich in den Roman ein.

Aber am überwältigendsten ist, wie er Kurt Gerron darstellt. Als habe Lewinsky sich die spröden und papierdünnen Reste aus biografischen Daten, filmischen Quellen, aus zeitgenössischem Mund wie aus Sekundärliteratur als Kostüm übergezogen und sie mit seiner Körperwärme zu neuem Leben erweckt. So authentisch und differenziert lebt sein Protagonist Kurt Gerron. Der als Inhaftierter in Theresienstadt zu letztem, zweifelhaftem Ruhm gelangt: Gerron wird von den Nazis gezwungen, einen Film über Theresienstadt zu drehen. So, dass alle Welt sehen kann, wie wunderbar das Leben dort ist. Die „Dokumentation“ trug den offiziellen Titel: „Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“, wurde jedoch schnell abgelöst von: „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“. Wie infam die Propaganda gearbeitet hat, ist heute nicht mehr vorstellbar. Nur eine kleine Kostprobe: in der Wochenschau vom Herbst 1944 wurde eine Kaffeehaus-Szene aus dem Film und anschließend Bilder von der Kriegsfront gezeigt, wozu der Sprecher kommentierte: „Während in Theresienstadt Juden bei Kaffee und Kuchen sitzen und tanzen, tragen unsere Soldaten alle Lasten eines furchtbaren Krieges, Not und Entbehrungen, um die Heimat zu verteidigen.“

Lewinsky erzählt das Leben Gerrons in der Ich-Form, beginnend mit der Aufforderung des Lagerleiters, den Film zu machen. Gerron reflektiert über Gewesenes und kommentiert gleichzeitig Theresienstädter Tagesgeschehen. Der Roman begleitet in kleinen Schritten die Entstehung des Films. Er zeigt die quälende Hoffnung Gerrons, damit dem letzten Transport, dem nach Ausschwitz, zu entgehen, und auch all die prominenten Wissenschaftler, Künstler, Politiker, Industrielle und Glaubensvertreter, die am Film mitwirken, davor bewahren zu können.

Es hat ihnen allen nichts genützt.

Der Roman ist glänzend: historisch und literarisch. Er glänzt wie ein Stolperstein. Wie ein ganz großer.

FaltblattFaltblatt

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