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Julien Green: "Leviathan" Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 43, München 2005ISBN 3-937793-50-X, 303 Seiten Originalausgabe: Leviathan, Paris 1929

Veröffentlicht am 17.01.2015

Die Personen:

Der Protagonist Paul Guéret lebt mit seiner Frau erst seit einigen Wochen in Chanteilles. Dort verliebt er sich in das schöne Mädchen Angéle. Er versucht ihre Wege zu kreuzen, wartet vor der Wäscherei, bis sie ihren Dienst beendet hat, spricht sie an, ohne ihr sagen zu können, was er wirklich will. Vor allem scheint er sich selbst nicht darüber im Klaren, welcher Art nun seine Leidenschaft ist.

Die Frau Guérets ist Näherin, ihm ergeben und längst verblüht. Obwohl von ihrem Mann nicht gerade mit Aufmerksamkeit und Zuneigung verwöhnt, zeigt sie ein ausgeglichenes Wesen, welches mit dem Schicksal in Einklang lebt.

Guéret arbeitet als Hauslehrer für den Sohn von Madame Grosgeorge. Er erlebt deren hartherziges Wesen, das ohne Regung den Sohn demütigt und züchtigt. Madame Grosgeorge verachtet ihr Leben, ihren Mann und dessen Lebensstil und Geschmack. Monsieur Grosgeorge schneidet vor seinem Hauslehrer auf, nicht zuletzt als Bonvivant, dem die kleine Angéle bei Bedarf zu Diensten ist.

Angéle arbeitete schon als Kind für die Wirtin Madame Londe, lebte bei ihr, und als heranwachsende Schönheit verkauft die Wirtin sie an ihre Restaurantkunden. Angéle ist verwirrt von den Nachstellungen Guérets, denn sie kennt nur die eindeutigen Absichten von Männern;  mit glühender Anbetung ohne den Drang, sie körperlich besitzen zu wollen, kann sie nichts anfangen.

Madame Londe ist Restaurantbesitzerin. Sie bietet ihren Gästen schmackhafte Kost zu erschwinglichen Preisen. Als Gegenleistung verlangt sie von ihnen absolute Pünktlichkeit, aber mehr noch: Indiskretion. Ihr eigenes Leben manifestiert sich nur als Schmarotzertum am Leben anderer. Ohne private und delikate Informationen über die Bürger von Chanteilles ist sie quasi lebensunfähig. Sie setzt Angéle als Prostituierte ein, vor allem, um die Liebhaber auszufragen und um ihre brennende Neugier zu befriedigen. Das kleine Mädchen Fernande zieht sie bereits als Nachfolgerin von Angéle heran.

Die Handlung:

Guéret stellt Angéle nach. Als er dahinter kommt, dass sie für Madame Londe als Prostituierte arbeitet, schlägt er sie fast tot. Auf der Flucht tötet er tatsächlich einen Greis. Da Angéle mit den entstellenden Wunden in ihrem Gesicht nun nicht mehr den Gästen des Lokals als Prostituierte zur Verfügung steht, bleiben die Kunden im Restaurant aus, weshalb Madame Londes Sorge um Angéles Genesung keine Anteilnahme bedeutet, sondern der Wunsch nach voller Kasse und gestillter Neugier ist. Wochenlang treibt sich Guéret in Verstecken herum, bis er schließlich, getrieben von dem Wunsch etwas über Angele zu erfahren, nach Chanteilles zurückkehrt. Dort trifft er auf Madame Grosgeorge, die inzwischen von dem Gedanken besessen ist, dass er der Mann sein kann, der sie aus der Langeweile ihres großbürgerlichen Lebens herausreißt und ihr Blut in Wallung versetzt. Sie bietet ihm an, ihm zu helfen, sperrt ihn stattdessen ein. Und als ihr schließlich klar wird, dass Guérets Leidenschaft noch immer Angéle gilt, ja, er sogar mit ihr fliehen will, verrät sie ihn und erschießt sich selbst. Guéret wird festgenommen, Angele wird wahnsinnig.

Beurteilung:

Objektiv gesehen ist die Geschichte sowohl literarisch wie auch psychologisch meisterhaft erzählt. Sehr pointiert, sehr facettenreich schildert der Autor einzelne Situationen, reizt sie so sehr aus, dass der Leser sich der meist düsteren, oft beinahe irren, Stimmung nicht mehr entziehen kann. Der Buchtitel "Leviathan" taucht im Roman kein einziges Mal auf. Der Leser ist angehalten, sich selbst den Leviathan als das Böse schlechthin, geweckt durch die Auflehnung gegen das Schicksal sämtlicher Beteiligter, vorzustellen. Beinahe alle Personen lechzen nach einer Liebe, die ihnen vom Schicksal versagt ist. Aber sie hadern, versuchen alle irgendwie trotzdem ihre Begehrlichkeiten zu stillen. Hier ist Leviathan aktiv und verwandelt alle (menschlichen?) Sehnsüchte in Böses.

Zum Leviathan: Eine detaillierte Beschreibung des bösartigen Ungeheuers findet sich im Alten Testament, Buch Hiob, wo seine Macht und Stärke als Sinnbild für die Fruchtlosigkeit von Hiobs Aufbegehren gegen sein Schicksal dient. In christlicher Zeit wurde Leviathan mit dem Teufel in Verbindung gebracht, aber auch als Allegorie für Chaos und Unordnung, für Gottferne und Sündhaftigkeit der Menschen aufgefasst. Für Thomas von Aquin und den Jesuiten Peter Binsfield repräsentiert er als Dämon des Neides eine der sieben Todsünden.

Im "Leviathan" von Joseph Roth ist ebenso die ungestillte Sehnsucht des frommen jüdischen Korallenhändlers Nissen Piczenik im Städtchen Progrody nach der Heimat der von ihm gehandelten Korallen der Knackpunkt, weshalb Leviathan aktiv wird und den armen Mann schließlich seine ganze Identität vergessen und verschleudern läßt.

Subjektiv halte ich den Roman für sehr desillusionierend, sehr deprimierend, in der Fülle der negativen Schilderungen manchmal fast für unglaubwürdig. Guten Gewissens kann ich ihn niemandem empfehlen, weil ich nicht sagen könnte, worin der Gewinn liegt, das Buch gelesen zu haben außer: es gelesen zu haben.

Der Autor: Julien Green wurde am 6. September 1900 in Paris geboren und wuchs in der französischen Metropole zweisprachig auf. Sein Vater vertrat dort einen amerikanischen Ölkonzern. Als Julien Green vierzehn Jahre alt war, starb seine Mutter. Drei Jahre später trat er in die französische Armee ein. 1919 bis 1922 studierte er an der University of Virginia unter anderem Geschichte, englische Literatur, Griechisch, Latein und Hebräisch. Dann kehrte er nach Frankreich zurück; 1940 bis 1945 lebte er als Emigrant in den USA, aber von Kriegsende an wieder in seiner Wahlheimat Paris. Dort starb er am 13. August 1998.

Seinen ersten Roman – "Mont Cinère" – veröffentlichte Julien Green 1926. Er schrieb in französischer Sprache. 1971 wurde er in die Académie française aufgenommen.

Seine Memoiren und Tagebücher zählen zu den geistreichsten Selbstzeugnissen der modernen Literatur.

 

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